Aus Samos: ein Appell an Frontex, sich an das Gesetz zu halten und Artikel 46 anzuwenden
Frontex missachtet seine Verpflichtung, mögliche Menschenrechtsverletzungen in seinem Einsatzgebiet zu überwachen und zu melden. Als eine Koalition von 7 auf Samos ansässigen Organisationen haben wir Beweise dafür gesammelt und fordern Frontex auf, das EU-Recht einzuhalten und Samos und ganz Griechenland zu verlassen.
Als eine der fünf Hotspot-Inseln in der Ägäis ist Samos ein wichtiger Zugangspunkt für Menschen, die Sicherheit suchen. Seit Jahren gibt es auf Samos eine hohe Zahl illegaler und gewaltsamer Zurückschiebungen (sogenannter Pushbacks). Menschen auf der Flucht werden entweder in griechischen Hoheitsgewässern abgefangen oder nach Erreichen der Insel aufgegriffen und in offene Gewässer zurückgebracht. Hier werden sie in kleinen Rettungsinseln ohne Motor zurückgelassen oder ins Wasser geworfen. In den meisten dieser Fälle werden die Betroffenen gefoltert und unmenschlich behandelt, z. B. durch schwere Schläge, sexualisierte Gewalt, Leibesvisitationen und den Diebstahl und der Zerstörung von Habseligkeiten. Nach Angaben von Forensic Architecture, einer Forschungsgruppe der Goldsmiths University of London, gibt es auf Samos die zweithöchste Rate an Pushbacks in der Ägäis.
Aufgrund der systematischen Praxis der Pushbacks von der Insel haben wir, ein Zusammenschluss von sieben auf Samos ansässigen Organisationen, in diesem Jahr eine Kampagne gestartet. Sie richtet sich an die Frontex-Exekutivdirektorin ad interim Aija Kalnaja, und fordert sie auf, gemäß ihren EU-Recht Verpflichtungen Samos und ganz Griechenland aufgrund von Menschenrechtsverletzungen zu verlassen.Um auf unser Ziel hinzuarbeiten, informierten wir gleichzeitig den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments und initiierten eine öffentliche Kampagne für die breite Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft.
Wie es anfing
Im Juli 2022 erklärte Kalnaja im Europäischen Parlament, dass die Präsenz von Frontex in Griechenland nach ihrem “Bauchgefühl” zu einer besseren Einhaltung der Menschenrechte beiträgt. Für uns auf Samos stand diese Aussage in krassem Gegensatz zu unseren kollektiven Erfahrungen bei der Arbeit auf der Insel. Sie schien auch eindeutige Beweise zu ignorieren, die die direkte Beteiligung von Frontex an Pushbacks und die Praxis des Wegschauens gegenüber dem Einsatz von Pushbacks durch Griechenland belegen. Wir haben daher beschlossen, Kalnaja über die Realität der Pushbacks von Samos zu informieren und sie an ihre rechtlichen Verpflichtungen als Exekutivdirektorin ad interim von Frontex zu erinnern.
Frontex zur Einhaltung des EU-Rechts auffordern
Einige Tage nach Kalnajas Erklärung richteten wir ein Schreiben an sie. Hier wiesen wir auf öffentlich zugängliche Beweise hin, die von Journalisten und Forschern vorgelegt wurden und die Pushbacks von Samos dokumentieren und sogar die Beteiligung von Frontex an einigen von ihnen belegen. Wir erinnerten sie auch an Artikel 46 (4) der EU-Verordnung 2019/1896, der sogenannten Frontex-Verordnung:
[…]zieht der Exekutivdirektor die Finanzierung jedweder Tätigkeit der Agentur zurück […] oder beendet diese ganz oder teilweise, wenn er der Auffassung ist, dass im Zusammenhang mit der betreffenden Tätigkeit schwerwiegende oder voraussichtlich weiter anhaltende Verstöße gegen Grundrechte oder Verpflichtungen des internationalen Schutzes vorliegen.
In unserem Schreiben wiesen wir darauf hin, dass die systematische Praxis der Rückschiebung von Samos, die schwere und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen beinhaltet, eindeutig die in Artikel 46 Absatz 4 genannten Kriterien erfüllt. Wir forderten Kalnaja daher auf, ihrer rechtlichen Verpflichtung nachzukommen und “Artikel 46 der Verordnung (EU) 2019/1896 über die Europäische Grenz- und Küstenwache auszulösen und erste Schritte zur Beendigung der Operationen und der operativen Unterstützung auf Samos und in Griechenland zu unternehmen.” Bis heute haben wir keine Antwort auf unser Schreiben erhalten.
Berichte über ernste Zwischenfälle
Gemeinsam haben wir mehrere Anträge auf Informationsfreiheit bei Frontex eingereicht, um Zugang zu allen Berichten über schwere Vorfälle (Serious Incident Reports/SIRs) für das Einsatzgebiet Samos seit 2016 zu erhalten. SIRs sind ein interner Mechanismus zur Überwachung schwerer Vorfälle, die von Frontex-Mitarbeitern gemeldet werden müssen. SIRs können in drei Kategorien unterteilt werden, wobei Berichte der “Kategorie 1” mögliche Verletzungen von “Grundrechten oder internationalen Schutzverpflichtungen” beschreiben. Für SIRs der Kategorie 1 verpflichtet der Frontex-Verhaltenskodex “jeden Beamten, der Grund zu der Annahme hat, dass die Grundrechte einer Person verletzt wurden, indem er entweder Zeuge einer solchen Verletzung wird oder davon hört, dies unverzüglich Frontex in Form eines Berichts über einen ernsten Zwischenfall zu melden” [Hervorhebung hinzugefügt]. Potenzielle Pushbacks fallen unter diese Kategorie. Entscheidend für Artikel 46 Absatz 6 ist, dass SIRs Beweise sind, die auf Grundrechtsverletzungen hinweisen könnten, “die schwerwiegend sind oder wahrscheinlich andauern werden”. Unsere Überlegung war, dass wenn, wie Kalnaja behauptet, die Präsenz von Frontex den Schutz der Menschenrechte verbessert, Frontex zumindest potenzielle Menschenrechtsverletzungen überwachen muss. Wir hätten daher erwartet, dass wir mehrere SIRs der Kategorie 1 sehen würden, wenn unserem Antrag auf Informationsfreiheit stattgegeben würde.
Als wir jedoch Zugang zu allen seit 2016 von Samos eingereichten SIRs erhielten, gab es nicht nur keinen einzigen SIR, der sich auf Pushbacks bezog, sondern es wurde auch kein einziger SIR der Kategorie 1 für das Jahr 2019 gemeldet. Für denselben Zeitraum konnten wir jedoch mindestens 34 Vorfälle identifizieren, darunter gut dokumentierte Pushbacks, die die Kriterien für einen SIR der Kategorie 1 erfüllen. Wir hatten also neue Beweise dafür, dass Kalnajas Behauptungen, die Präsenz von Frontex führe zu einer besseren Achtung der Menschenrechte, unbegründet waren, und wir forderten sie weiterhin auf, ihren Verpflichtungen gemäß Artikel 46 Absatz 4 nachzukommen.
Auf der Grundlage dieser Beweise haben wir Anfang Oktober Briefing-Pakete an die Mitglieder des LIBE-Ausschusses geschickt. Der LIBE-Ausschuss überwacht die Einhaltung der bürgerlichen Freiheiten und der Menschenrechte, wie sie in der EU-Grundrechtecharta festgelegt sind, in der Europäischen Union und spielt eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung der Kontrollfunktion des EU-Parlaments gegenüber der Agentur. Im Jahr 2021 veröffentlichte der Ausschuss einen Bericht mit detaillierten Empfehlungen zur Verbesserung der Rechenschaftspflicht und Transparenz innerhalb von Frontex, der am besten finanzierten EU-Agentur. Später, im September 2022, beschloss der Ausschuss, Frontex aufgrund der Ergebnisse des damals noch geheimen Berichts des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) die Finanzierung zu verweigern. Um sie in ihrer Arbeit Frontex zur Rechenschaft zu ziehen zu unterstützen, haben wir den Mitgliedern des LIBE-Ausschusses unsere Beweise aus Samos zur Verfügung gestellt. Außerdem forderten wir den Ausschuss dazu auf, die Entlastung des Jahreshaushalts von Frontex aufrechtzuerhalten, und den Artikel 46 anzuwenden.
Als Teil des öffentlichen Parts unserer Kampagne führten wir eine fünftägige Twitter-Kampagne durch, in der wir Artikel 46 und die SIRs erklärten, einschließlich unserer Beweise für die systematische Unterberichterstattung durch Frontex. Anhand von dokumentierten Pushbacks aus Samos und der gesamten Ägäis haben wir aufgezeigt, warum Frontex verpflichtet ist, Artikel 46 auszulösen und Samos zu verlassen.
Weder ‘Praktiken der Vergangenheit’ noch individuelles Fehlverhalten
Einige Tage nach unserer Kampagne veröffentlichte die deutsche Informationsfreiheitsorganisation Frag den Staat in Zusammenarbeit mit dem Spiegel den OLAF-Bericht, der im April 2022 zum Rücktrittdes damaligen Exekutivdirektors Fabrice Leggeri führte. Seitdem steht Frontex zunehmend unter Druck. Als Reaktion auf die undichte Stelle veröffentlichte Frontex eine offizielle Erklärung, in der die berichteten Verfehlungen als Vergehen Einzelner und “Praktiken der Vergangenheit” bezeichnet wurden. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die im OLAF-Bericht aufgedeckten Praktiken, wie die “Nichteinhaltung […] der geltenden Standardarbeitsverfahren für die Meldung ernster Zwischenfälle” oder die “Nichtergreifung von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Anwendungsbereich von Artikel 46 der FRONTEX-Verordnung (EU) 2019/1896”, kein Fehlverhalten von Einzelpersonen sind. Denn der OLAF-Bericht gibt einen ausführlichen Einblick darin, wie die Agentur bei mehreren Gelegenheiten Pushbacks erlebte und wie der Verwaltungsrat das Amt für Grundrechte vollständig isolierte.
Aufgrund der sich häufenden Beweise bestreiten wir Kalnajas Behauptung, dass die Präsenz von Frontex zu einer besseren Achtung der Menschenrechte beiträgt. Zusammen mit anderen fordern wir weiterhin, dass die Exekutivdirektorin ad interim oder ihr Nachfolger ihren Verpflichtungen gemäß Artikel 46 Absatz 4 nachkommt und Samos verlässt.
Die Anwendung von Artikel 46 ist keine Option, sondern eine rechtliche Verpflichtung.
Über den Autor: Geschrieben von einer der sieben beteiligten Organisationen.